Laut Statistischem Bundesamt besitzt ein durchschnittlicher deutscher Haushalt heute 10.000 Dinge. Das sind 9.820 Dinge mehr als noch vor 100 Jahren.1Kern, Stefan: Wie viel ist genug? 26.04.2014. https://www.rnz.de/panorama/magazin_artikel,-Magazin-Wie-viel-ist-genug-_arid,20959.html
Doch wie viele Dinge davon brauchen wir wirklich? Ich bin mir sicher, diese Frage hast du dir schon einmal gestellt. Vielleicht bei einem Umzug in den vierten Stock oder dem Ausmisten des Kellers. Es fällt uns schwer Dinge auszusortieren, selbst wenn wir sie bereits seit Jahren nicht mehr benutzt haben. Wir könnten sie ja trotzdem noch einmal verwenden.
Erklären, lässt sich dieses Verhalten mit dem Endowment-Effekt. Oder auf Deutsch: Besitztumseffekt. Er stammt aus der Verhaltensforschung und wird – trotz der einflussreichen Wirkung im Alltag – häufig unterschätzt. Ich möchte dir den Effekt im Detail vorstellen und zeigen, wie er funktioniert.
Wenn dir bewusster Konsum und eine minimalistische Lebensweise am Herzen liegen, solltest du dir seine Wirkungsweise unbedingt bewusst machen. Genau dabei kann er uns nämlich im Weg stehen.
Definition: Was ist der Endowment-Effekt?
Die traditionelle Nutzentheorie besagt: Wert und Nutzen eines Produktes sind immer gleich, egal ob man es besitzt oder nicht. Was in der Theorie logisch klingt, empfinden wir in der Realität anders.
Der Endowment-Effekt bewirkt, dass wir den Wert eines Produktes höher einschätzen, sobald wir es besitzen.
Dazu kann es schon reichen, es in die Hand zu nehmen. Durch den „gefühlten Besitz“ steigt der Wunsch, das Produkt tatsächlich zu erwerben. Wir entwickeln eine emotionale Bindung zu Dingen, die uns gehören und geben sie dann nur ungern wieder aus der Hand. Dadurch steigt der Wert, den wir dem Produkt zuschreiben. Psychologen nennen das Kognitive Verzerrung.
Gut zu wissen
Unter kognitiver Verzerrung versteht man systematisch auftretende Denk- und Wahrnehmungsfehler. Dieser Effekt tritt besonders häufig auf, wenn wir schnell denken oder eine Entscheidung treffen müssen. Wir treffen Entscheidungen dann nicht aufgrund rationalen Abwägens, sondern werden von unbewussten Vorannahmen unseres Gehirns beeinflusst.
Was ist mehr Wert: Eine Tafel Schokolade oder eine Kaffeetasse?
Diese Diskrepanz in unserer Wahrnehmung konnte in einer einfachen Studie von Jack L. Knetsch aus dem Jahr 1989 nachgewiesen werden.2Knetsch, J. L.: The Endowment Effect and Evidence of Nonreversible Indifference Curves. In: American Economic Review, Vol. 79, No. 5 (Dec. 1989), S. 1277‐1284.
Er verschenkte in diesem Experiment Kaffeetassen an eine Gruppe von Studenten und gab ihnen anschließend die Möglichkeit, die Tassen gegen eine Tafel Schokolade einzutauschen. Rund 90 % wollten die Kaffeetasse behalten. Einer anderen Gruppe von Studenten derselben Universität schenkte er die Schokolade. In der Vergleichsgruppe wollten knapp 90 % der Studenten die Schokolade nicht gegen die Kaffeetasse eintauschen, als ihnen dies angeboten wurde.
Der Wert und Nutzen der Produkte wird nicht rational bewertet. Er ist von dessen Besitz abhängig.
Forschung zum Endowment-Effekt
Der Endowment-Effekt wurde erstmals von dem Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Universität Chicago, Richard Thaler, benannt.
Er argumentiert in seiner Arbeit, dass Menschen Kaufentscheidungen in der Realität anders treffen als in der ökonomischen Theorie angenommen. Sie bewerten Verluste höher als Gewinne und lassen sich mehr durch Werte als rationalen Nutzen leiten.
Der Endowment-Effekt wurde später in verschiedenen Experimenten nachgewiesen. Eine bekannte deutsche Versuchsreihe wurde von der Fachhochschule Kiel durchgeführt und stellte Studenten vor die fiktive Entscheidung zwischen Geld oder Gesundheit.
Dazu wurden die Studenten in zwei Gruppen eingeteilt und hatten die Möglichkeit, 0,5 % Unfallrisiko gegen 700 € einzutauschen.
Die Studenten der Gruppe A wurden gefragt, ob sie bereit wären, die Wahrscheinlichkeit bei einem Verkehrsunfall verletzt zu werden für 12 Monate von 0,5 % auf 1 % zu erhöhen, wenn sie dafür 700 € monatlich dazu verdienen würden. 69 % der Studenten lehnten dieses Angebot ab.
Gruppe B wurde gefragt, ob sie bereit wären, für die nächsten 12 Monate 700 € monatlich zu bezahlen, wenn sie dafür ihre Unfallwahrscheinlichkeit von 1 % auf 0,5 % senken könnten. Ganze 83 % waren nicht bereit das Geld zu bezahlen.
In beiden Fällen ging es um die Entscheidung zwischen 700 € und 0,5 % Unfallwahrscheinlichkeit. Die Studenten der Gruppe A waren Besitzer der Gesundheit. Ein Großteil von ihnen war nicht bereit diese für Geld aufzugeben. Die Studenten der Kontrollgruppe waren Besitzer des Geldes. 83 % waren nicht bereit, dieses für einen Zugewinn an Gesundheit zu verlieren.3Thiemer, Andreas: „Besser nie besitzen, als verlieren“ Endowment‐Effekte. Fachhochschule Kiel. Institut für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik. VWL-Semesterprojekt Nr. 6. SS 2008.
Das Experiment ist eines von vielen, das zeigt: Wir bewerten Verluste höher als Gewinne in der gleichen Höhe.
Wie lässt sich der Endowment Effekt erklären?
Der Endowment-Effekt wurde in der Forschung mittlerweile mehrfach nachgewiesen und auch aus meinem persönlichen Leben kommt mir das Phänomen bekannt vor. Dinge, die ich besitze, gebe ich ungern wieder aus der Hand.
Doch wie lässt sich das erklären? Der Endowment-Effekt wurde noch nicht abschließend erforscht, aber es gibt eine Reihe von Erklärungsansätzen. Die folgenden drei werden besonders häufig genannt:
- Verlustaversionen
- Referenzabhängigkeit
- Verbundenheit
1. Verlustaversionen
In verschiedenen Experimenten konnte gezeigt werden: Die Reaktion auf einen Verlust ist stärker als auf einen Gewinn in gleicher Höhe. Wenn etwas in unseren Besitz übergeht, steigt der empfundene Wert. Sollen wir den Gegenstand nun hergeben oder verkaufen, empfinden wir das als schmerzhaften Verlust. Aus diesem Grund neigen wir dazu, utopische Preise bei einem Weiterverkauf zu fordern. Wir verlangen mehr Geld für das Produkt als wir selbst bereit wären auszugeben. Denn etwas, das uns am Herzen liegt, verkaufen wir nicht gerne. Es bedeutet einen Verlust und die nötige (gefühlte) Kompensation lässt den Preis in die Höhe steigen.
2. Referenzabhängigkeit
Wie wir Dinge bewerten, ist abhängig von unserem Referenzpunkt. Ob wir etwas als laut oder leise empfinden, ist abhängig von der Lautstärke der vorherigen Geräusche. In der Bibliothek erscheint uns ein geflüstertes Gespräch als auffällig und laut, während wir nach einem Rock-Konzert laute Gespräche in der Bahn als vergleichsweise leise empfinden. Das passiert ebenfalls beim Bewerten eines Handels. Abhängig von unserem Referenzpunkt entscheiden wir, ob es sich um einen Gewinn oder einen Verlust handelt.
3. Gefühl der Verbundenheit
In der Verhaltenspsychologie konnten Verweise auf Gefühle der Verbundenheit vom Besitzer zum Objekt nachgewiesen werden. Wir verkaufen ungern Dinge, die sich schon lange in unserem Besitz befinden, auch wenn wir sie nicht mehr benötigen. Wir fühlen uns dennoch mit ihnen verbunden und geben sie nur ungern wieder her. Der gebotene Preis muss hoch sein, um dieses Gefühl zu kompensieren.
Der Endowment-Effekt als Marketing-Strategie
Der Endowment-Effekt sorgt nicht nur für vollgestellte Keller, sondern macht uns anfällig für Manipulation. Denn den psychologischen Effekt machen sich Marketer und Händler zunutze. Das gemeine daran ist: Die Strategie funktioniert nachweislich. Auch Fast-Besitz macht Dinge für uns wertvoller. Deswegen neigen wir dazu, am Ende von Auktionen mehr Geld auszugeben als vernünftig wäre.
Dürfen wir ein Produkt bereits eine Zeit lang halten oder ausprobieren, löst der gefühlte Besitz den Endowment-Effekt bereits aus. Das Produkt danach wieder aus der Hand zu geben, nehmen wir als Verlust wahr. Diese Wirkung machen sich Verkaufsstrategien gerne zunutze. Das passiert zum Beispiel, wenn wir Kleidung oder Schuhe anprobieren oder das neue Smartphone in der Hand halten und ausprobieren. Besonders effektiv ist der Effekt bei kostenlosen Probemonaten oder Probefahrten. Dabei erhalten wir bereits eine genaue Vorstellung davon, wie es wäre, das Produkt zu besitzen. Im Anschluss möchten wir uns nur sehr ungern wieder davon trennen.
Der Endowment-Effekt als Ursache für Überforderung und Ballast
Der Endowment-Effekt zeigt sich in vielen Bereichen unseres Lebens und er lässt sich sogar neuropsychologisch nachweisen.
Das Gehirn von Menschen, die sich von etwas trennen, ist in dem Bereich aktiv, in dem Schmerzen verarbeitet und bewertet werden. Wir empfinden die Trennung von unserem Besitz als schmerzhaften Verlust.
Dieses Phänomen sollten wir uns im Alltag bewusst machen, denn es lässt uns an Dingen festhalten, die wir eigentlich nicht benötigen. Verstärkt wird der Effekt zusätzlich durch einen emotionalen Wert.
Persönliches Beispiel: Ich kenne diese Gedankenmuster auch von mir. Bei meinem letzten Umzug habe ich Dinge mitgenommen, die ich vorher jahrelang nicht genutzt habe. Für den Fall, dass ich sie doch noch einmal brauche. Die meisten dieser Dinge waren Monate später immer noch in Kisten verstaut, die ich in der Zwischenzeit nicht aufgemacht oder vermisst habe. Eine Bindung an Dinge, die wir nicht benötigen, ist im Alltag hinderlich. Mehr und mehr häufen sich Sachen an, die uns eigentlich eher im Weg sind.
Trotz Endowment Effekt bewusster leben und konsumieren?
Wir können uns nicht gegen die Funktionsweise unseres Gehirns wehren, aber wir können uns den Endowment-Effekt im Alltag bewusst machen.
Wenn du dich dabei ertappst, an etwas festzuhalten, das du eigentlich nicht mehr benötigst, solltest du dir dessen tatsächlichen Nutzen vor Augen führen. Etwas, das du die letzten Monate oder sogar Jahre nicht mehr genutzt hast, wirst du wahrscheinlich auch in Zukunft nicht vermissen.
Der Endowment-Effekt kann uns dazu verleiten, Kisten im Keller oder auf dem Dachboden zu stapeln, in die wir frühestens beim nächsten Umzug wieder reinschauen.
Frage dich nicht nur bei Neuanschaffungen, sondern ebenfalls bei Dingen, die du bereits besitzt, ob du sie wirklich brauchst. Frage dich, welchen Zweck dieser Gegenstand erfüllt; wofür du ihn aktiv verwendest. Das Loslassen von unnötigem Ballast ist befreiend und hilft uns zu Hause freier durchatmen und einfacher Ordnung halten zu können.
Wer bewusst konsumiert, leistet außerdem einen erheblichen Beitrag für die Umwelt und kann anderen eine Freude machen. So schaffst du Platz für die Dinge, die wirklich wichtig sind.
Weiterführende Links:
- IKEA-Effect
- Verlustaversion
References