Flynn Effekt James R Flynn
Flynn Effekt James R Flynn

Der Flynn-Effekt: Wird die Menschheit immer schlauer?

Im Jahr 1984 machte der Intelligenzforscher James R. Flynn eine überraschende Entdeckung: Die Menschen wurden immer schlauer.

In seinen Forschungen verglich der Professor für politische Studien die IQ-Werte verschiedener US-amerikanischer Generationen und stellte fest, dass deren IQ-Wert kontinuierlich anstieg. Jede Generation gewann durchschnittlich 10 Intelligenzpunkte dazu.

Bedeutet der Anstieg wirklich, dass die Menschheit ständig schlauer wird? Das wollte der Wissenschaftler genauer wissen und erweiterte seine Studie mit Daten aus 14 verschiedenen Industrienationen – das Ergebnis blieb immer das gleiche: Der Intelligenzquotient stieg weiter an.1https://www.iqcomparisonsite.com/Locations.aspx

Dem Phänomen gehen wir in diesem Artikel genauer auf die Spur. 



Definition: Was ist der Flynn Effekt?

Der Flynn Effekt beschreibt das Phänomen des kontinuierlich steigenden IQ-Werts der Bevölkerung. Der Wissenschaftler James R. Flynn beobachtete, dass die Menschen im Laufe des 20. Jahrhunderts immer besser bei IQ-Tests abschnitten. Sie scheinen von Generation zu Generation intelligenter zu werden.


Der Anti-Flynn-Effekt: Die derzeitige Forschung entdeckt Anzeichen dafür, dass sich der Flynn-Effekt nun umkehrt. Demnach werden die Menschen jetzt (vielleicht) wieder von Jahr zu Jahr dümmer.


Intelligenztest Rubiks Cube in gelb

Hintergrund zum Flynn-Effekt: Was ist Intelligenz?

Wie immer in der Wissenschaft müssen wir das Ergebnis der Flynn-Studien differenziert sehen. Schauen wir gemeinsam genauer hin. Was ist Intelligenz? Was beeinflusst sie? Und was sagen jüngere Forschungsergebnisse zum Thema Flynn-Effekt?

Der Zusammenhang von Intelligenz und IQ-Tests

Was genau Intelligenz ausmacht, darüber streitet sich im Detail bis heute die Wissenschaft. Ganz allgemein handelt es sich um die Fähigkeit eines Menschen, sich mittels Einsicht an neue Situationen anzupassen und Aufgaben durch Nachdenken zu bewältigen. Ein intelligenter Mensch erfasst schnell bestehende Beziehungen und ihre Kombinationen. So kann er seinen Blick auf ein vorhandenes Problem verändern und innovative Lösungen finden. 

1904 kreierten Alfred Binet und Theodore Simon den ersten IQ-Test der Geschichte. Damit wollten die beiden Forscher erstmals Intelligenz normieren. Diese Normierung hat sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt, neue Tests traten auf den Plan und verdrängten die alten. Mehr erfahren.

„Intelligenz ist das, was der Intelligenztest misst.“

Edward Boring, 1923

Drop-Down-Content: Erfahre mehr zum Thema IQ-Tests

Lässt sich die Intelligenz des Menschen in einer einzigen Zahl bemessen? Der Psychologe Charles Spearman meinte “Ja.” Er fand 1923 heraus, dass eine positive Korrelation zwischen den einzelnen Bereichen eines Intelligenztests besteht, daraus leitete der Forscher den Generalfaktor g ab, der die Gesamtintelligenz eines Menschen ausdrückt. Mit diesem Zahlenwert lässt sich die Intelligenz verschiedener Individuen und ganzer Generationen vergleichen. 


„At one time, I was blind to the real-world significance of IQ gains because I was under the spell of g. I kept looking for general intelligence gains and could not find them. I could not see the trees because I was looking for a forest.“ – James R. Flynn


Wenn dir das zu simpel erscheint, dann stehst du damit nicht allein. Viele Wissenschaftler halten einen einzigen allgemeinen IQ-Wert für nicht ausreichend.

Sie stellen sich die Intelligenz als eine Palette unabhängiger Fertigkeiten vor. Der US-Psychologe Howard Gardner nennt dies “multiple Intelligenz”. Er unterscheidet beispielsweise Bewegungsintelligenz, naturalistische Intelligenz und musikalische Intelligenz. Nicht nur rein akademische Fähigkeiten zählen zu diesem System, sondern auch praktische Fertigkeiten, die beweisen, wie gut die einzelnen Hirnbereiche miteinander agieren.

Flynn Effekt James R Flynn
James R. Flynn, © ISIR

Wie beurteilte James R. Flynn den wachsenden Intelligenzquotient?

Der steigende IQ-Wert zeigte sich bei Flynns Studien hauptsächlich in nonverbalen, kulturell reduzierten Tests, also in einem relativ abgegrenzten Bereich.

Der Forscher selbst äußerte Zweifel daran, dass die Menschen seiner Zeit generell intelligenter waren als ihre Vorfahren. Aus seiner Sicht handelte es sich um einen Intelligenzanstieg “im engen IQ-Sinn”, das heißt, Flynn sah einen Unterschied zwischen der eigentlichen kognitiven Leistung seiner Mitmenschen und der Punkte-Messlatte der Tests. Im Klartext zweifelte er damit die generelle Aussagekraft der zu seiner Zeit vorhandenen IQ-Tests an. Außerdem sah er den menschlichen Verstand als eine Art Muskel an, der auf Effektivität trainiert werden muss. Die Intelligenz des Einzelnen ist demnach nicht statisch, sie kann wachsen oder schrumpfen:

“The mind is more like a muscle than we once believed. It is something that must be constantly exercised to attain and maintain peak fitness. Just as an athlete must train harder and harder as he or she matures, so children must think with greater and greater complexity as they pass through school.” – James R. Flynn


Virtual Reality Intelligenztest

Was bedeutet der Flynn-Effekt für moderne Intelligenz-Tests?

Die Psychologin Emma Sjöström schreibt 2019 in ihrer Veröffentlichung Aktuelle Forschungsbefunde zum Flynn-Effekt2https://www.pearsonclinical.de/blog/aktuelle-forschungsbefunde-flynn-effekt

“Da der Flynn-Effekt scheinbar nicht linear auftritt, wird Klinikern nicht empfohlen, ihre Testergebnisse bei der Interpretation des Testverfahrens anzupassen. Der sicherste Weg, um einen übermäßigen Einfluss des Flynn-Effekts zu vermeiden, besteht darin, immer die aktuellste Auflage eines Testverfahrens zu nutzen.” 

Aufgrund des Flynn-Effekts müssen IQ-Tests immer wieder angepasst werden, damit die Vergleichbarkeit der Daten erhalten bleibt.

Außerdem erklärt Sjöström: “Das Risiko, dass die Normen den kognitiven Entwicklungsstand der Bevölkerung nicht widerspiegeln, steigt mit der verstrichenen Zeit nach Veröffentlichung.”

Ihre Erkenntnis ist nicht neu. Bereits in den 1930ern stellten Intelligenzforscher fest, dass die Normwerte ihrer Tests im Laufe der Jahre nicht mehr stimmten. Sie justierten die Eichung nach, ohne jemals etwas vom Flynn-Effekt gehört zu haben.

James R. Flynn führte später ein krasses Beispiel an, das erklärt, warum eine Nachjustierung wichtig ist: Menschen mit geistiger Behinderung dürfen in einigen US-Bundesstaaten nicht hingerichtet werden, selbst wenn sie einen Mord begangen haben. Mit einer veralteten IQ-Norm wäre die Behinderung eventuell nicht erkennbar. Ein paar IQ-Punkte mehr oder weniger, könnten in diesem Fall den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen.

Welche Ursache steckt hinter dem Flynn-Effekt?

Die Ursache des Flynn-Effekts gibt bis heute Rätsel auf. Niemand kann mit Gewissheit sagen, warum die IQ-Werte im Laufe der Jahre und Generationen steigen. Die meisten Wissenschaftler vertreten der Ansicht, dass mehrere Faktoren für die Entwicklung verantwortlich sind. In Betracht kommen beispielsweise die folgenden Punkte: 

  • Eine gesündere Ernährung und die daraus resultierende bessere Gehirnentwicklung.
  • Ein verbessertes Bildungssystem, das die Menschen mehr fordert.
  • Der Fakt, dass die Menschen im 20. Jahrhundert immer mehr Bücher gelesen haben.
  • Das Aufkommen neuer Technologien, die das abstrakte Denken fördern. 
  • Bessere Vorbereitung durch Knobeleien in Zeitschriften und Büchern. 
  • Verändertes Arbeitsumfeld mit mehr Konzentration auf analytisches Denken. 

VIDEO: https://www.youtube.com/watch?v=9vpqilhW9uI James Flynn: Warum unsere IQ-Niveaus höher sind als die unserer Großeltern.


Vielleicht gibt es gar keine reale Ursache für dieses Intelligenz-Phänomen, denn: Manche Forscher glauben, dass der Flynn-Effekt nur ein statistisches Artefakt ist und durch Stichprobenverschiebungen zustande kommt. Andere argumentieren wie James R. Flynn selbst, das Phänomen sei “semireal”, spiegele also kein tatsächliches Anwachsen der Intelligenz wider.

Der Anti-Flynn-Effekt: Werden wir nun wieder dümmer?

An diesem Punkt wird es kurios. Neue Daten zeigen, dass der Flynn-Effekt an Fahrt verliert, sich in einigen Regionen der Erde sogar ins Gegenteil verkehrt.

Schon kursiert in der Wissenschaft der Begriff “Anti-Flynn-Effekt”. Die Ursache für den Rückwärtsgang soll genau wie beim Flynn-Effekt, im veränderten menschlichen Umfeld liegen, so beschreibt es eine Studie von Bernt Bratsberg und Ole Rogeberg 3https://www.pnas.org/content/115/26/6674 aus dem Jahr 2018, die unter dem Titel “Flynn effect and its reversal are both environmentally caused” erschien.

Werden wir immer dümmer?
Werden wir immer dümmer?

Die Untersuchung von Bratsberg und Rogeberg nimmt unter anderem Bezug auf Ergebnisse aus Norwegen, die deutlich zeigen, dass der IQ-Wert unter jungen Männern allmählich sinkt. Die Geburtsjahrgänge von 1962 bis 1991 der dortigen jungen Männer mussten bei ihrer Musterung einen IQ-Test ablegen. Daraus entstand ein umfangreicher Datensatz, der sich auf 700.000 Personen bezieht.

Der Befund ist eindeutig. Der IQ der jungen Männer steigt bis zur Mitte der 70er-Jahre an, dann gibt es einen Knick und jedes Jahrzehnt gehen etwa zwei Punkte verloren. Seit etwa 1995 gibt es ähnliche Meldungen aus anderen nordeuropäischen Ländern, wohingegen in den USA keine Trendumkehr zu vermelden ist. 


Die Studie von M. Spitzer “Werden wir dümmer? Der Flynn-Effekt im Rückwärtsgang”4https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/html/10.1055/s-0038-1670573 nimmt den Effekt genauer unter die Lupe. Wenn wir allerdings annehmen, dass wir gar nicht schlauer geworden sind, dann könnte auch der Anti-Flynn-Effekt nur eine Täuschung sein. 


Flynn Effekt Moderner IQ-Test

Nein, wir werden nicht dümmer – nur anders

Als wäre dies alles noch nicht genug Hin und Her, zeigt sich der Anti-Flynn-Effekt wenig konsistent und bleibt deshalb schwer verifizierbar.

Während sich seit 1995 in Deutschland das räumliche Vorstellungsvermögen im Sinkflug befindet, verbessern sich die Ergebnisse von Vokabeltests. In Großbritannien können viele Kinder plötzlich bestimmte Aufgaben im Bereich des abstrakten Denkens nicht mehr lösen, während umfassende IQ-Tests eher eine steigende Intelligenz anzeigen. Die Befundlage erscheint insgesamt heterogen, regionale Veränderungen könnten die Ursache sein.

Der befürchtete Absturz der menschlichen Intelligenz nach dem vorherigen Höhenflug findet wahrscheinlich nicht statt. Eher im Gegenteil: Der Flynn-Effekt bleibt in einigen IQ-Bereichen und Regionen weiter bestehen, die Lage ist durchwachsen und inkonsistent. Das scheint auch kein Wunder, weil menschliche Intelligenz etwas schwer greifbares ist, das sich auch weiterhin nicht so leicht durchschauen lässt. Das wusste schon der Namensgeber des Phänomens, James R. Flynn.

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